Der Splügenpass - ein Pass der seinesgleichen sucht.
Es ist Feiertag - aber - egal - es ist der dritte Oktober 2022. Wenn nicht jetzt, dann dieses Jahr nicht mehr. Bald schneit es, bald sind die Pässe gesperrt. Das Wetter passt, und der blaue Bus ist vollgetankt. 13:00 Uhr - ich fahre los. Über die A81 geht es Richtung Süden, es geht in die Schweiz. Durch Konstanz, auf der Südseite des Bodensees entlang. Die Nordseite, sagt das Navi, ist (wegen des Feiertags in Deutschland) über eine Stunde länger. Die ersten Kilometer in der Schweiz fahre ich von einem Kreisverkehr in den nächsten Kreisverkehr. Gefühlt an die zwanzig oder mehr. Angekommen auf der Autobahn geht es zügig Richtung Chur; Dann weiter, den Schildern folgend, Richtung Berninapass. Kurz davor, im Ort Splügen, mache ich einen Halt. Es ist 16:00 Uhr, und in dieser Jahreszeit, ist es um 19:00 Uhr dunkel. Soll ich, oder soll ich nicht?
Ich soll - ich fahre los - fahre durch Splügen durch, und dann geht es schon den Berg hinauf. Vorteil der späten Tageszeit: es sind fast keine Autos unterwegs. Und Vorteil der Fortgeschrittenen Jahreszeit: Nur wenige Reisende sind noch unterwegs.
Der erste Teil ist leicht ansteigend, einige wenige Kurven führen in ein langgestrecktes Hochtal. Es herrscht auf diesem Pass Anhängerverbot, sonst wäre ich die Straße schon früher mal gefahren. Bis jetzt erkenne ich aber keinen Grund für dieses Verbot. Nun ja - ich bin ja auch nicht das (Fahr)maß aller Gespannfahrer.
Das Hochtal gefällt mir. Die Baumgrenze ist ziemlich genau in seinem Mittelpunkt. Es sind 5 Kehren bis da hin. Dann, am Ende des Tales geht es in 14, dicht übereinander liegenden, Serpentinen, zügig nach oben
Dann - die Scheitelhöhe. Ich bin jetzt 2113 Meter hoch. Ich halte - steige aus - ich bin allein - die Stille - ein Traum. Und jetzt? Immer noch bin ich unschlüssig. Weiß nicht, wo ich die Nacht verbringen werde? Und so steige ich wieder in den Bus, und fahre weiter.
Die Landschaft beeindruckt genau so, wie die Straße. Und dann kommt der Ort "Montespluga". Er liegt über der Baumgrenze. Hmm - wer wohnt da? Was tut man hier? Fast traumatisiert fahre ich durch den Ort. Teils sehr verfallene Häuser wechseln sich mit renovierten Gebäuden ab. Leute sehe ich keine. Ein großer Parkplatz am Ortsende - ich präge ihn mir ein, und fahre am Ufer des "Lago di Montespluga" entlang, erst vor zur Staumauer, dann hinunter ins Tal. Es folgen 49 Kehren - 8 Tunnel- 11 Galerien auf einer Distanz von 30 Kilometer, und einem Höhenunterschied von 1800 Metern.
Kein Film kann schöner sein, als was mir die Leinwand, die große Frontscheibe meines T4 zeigt. Es folgen erst die Orte "Pianazzo" - "Campodolcino", und dann ein bautechnisch hochinteressanter Abschnitt. Im Vergleich zum Stilfser Joch? Ja klar - es war der gleiche Ingenieur, der beide Passstraßen geplant - gebaut hat. Carlo Donegani gelang es, mit Hilfe mehrerer Tunnels und Galerien, und extrem engen Spitzkehren eine Straße ins steile Gelände zu bauen. Manche Tunnel sind einspurig - und es brauchte den gesamten Lenkeinschlag des blauen Bus, damit ich in einem Zug durch die Spitzkehren kam. Es folgten die Orte "Campodoicino" dann "Corti" > "Cimaganda" > "Gallivaggio" > "San Giacomo-Filippo.
Das Tal des Liro ist wildromantisch wie im Bilderbuch, und endet in Chiavenna. Und da bin ich jetzt. Bin gerade, am späten Nachmittag, so mal eben, über den Splügenpass gefahren. Hab ich ihn auch gesehen? Es ist jetzt 17:15 Uhr. Ich beschließe zurück zu fahren. Zurück nach "Montespluga". Ein, für mich, geheimnisvoller Ort. Zurück zu dem Parkplatz am Ortsrand, welchen ich kommende Nacht zu meinem Schlafplatz machen werde.
Ein Weg, eine Straße, hat immer zwei Seiten, hat zwei Richtungen. Ist man die Straße nur in einer Richtung gegangen - gefahren, so hat man sie nur zur Hälfte gesehen. So jetzt auch bei mir. In Chiavenna wende ich den blauen Bus, und fahre den Weg zurück, fahre die Straße erneut hinauf zum Pass. Alles, wirklich alles sieht anders aus. Sieht aus, als wäre ich noch nie hier gewesen?! Fährt man einen Pass nach oben, so ist das Fahrgefühl ein ganz anderes, als bei der Fahrt nach unten.
Ich spute mich; Will vor eintreten der Dunkelheit in Montespluga sein. Ein Lied kommt mir in den Sinn, welches wir mal in der Schule gelernt haben: "Hoch auf dem gelben Wagen" - und darin der Satz: "ich möcht so gerne noch bleiben - aber der Wagen der rollt". So geht es mir gerade auf meiner Fahrt nach oben. Die Orte wo ich durch fahre, viel zu schnell durch fahre, laden förmlich zum verweilen ein. Die Dörfer, ihre Häuser, die Kirchen wollen mir ihre Geschichten erzählen. In diesem Moment weiß ich, dass ich wieder kommen werde. Dass ich viel Zeit mitbringen werde, und dass ich ihnen zuhören werde. Die Sonne ist schon hinter den verschneiten Bergen unter gegangen. Noch ist es hell, als ich den Parkplatz in Montespluga erreiche.
Wir sind hier 4 Fahrzeuge. Das Thermometer zeigt 2 Grad an, und mich friert, als meine Nachbarn ihre Dachzelte aufklappen, und sich auf einem kleinen Gaskocher eine Suppe zubereiten. Ich schalte meine Standheizung im blauen Bus ein, und mache noch einen kurzen Spaziergang durch den Ort, welchen ich mir Morgen noch etwas genauer anschauen werde.
"Montespluga": liegt auf 1908 Meter Höhe über dem Meer, und hat 10 Einwohner. Das Dorf liegt 3 Kilometer vom Pass entfernt. Der Ort entstand, weil in dieser Senke immer Wasser war, und es sich somit zum weiden gut eignet. Der Stausee "Lago die Montespluga" wurde erst 1927 gebaut. Der Ort hat nur wenige Häuser, und hier befand sich bis 1841 das einzige Hospiz am Splügenpass - und - ganz wichtig - das einzige Gotteshaus, die Kapelle "San Francesco d`Assisi" Das Dorf besteht aus drei Straßen: "Via Dogana" - "Via Ferre" - und "Via Val Loga". Im Winter ist der Ort nur von der italienischen Seite anfahrbar. Die Schweizer räumen ihre Seite der Straße nicht mehr.
Jetzt die Frage: was tut man hier? Irgendwo stehen 2 Skilifte. Sie sind aber seit Jahren nicht mehr gelaufen - weil - ganz einfach - niemand den weiten Weg hierauf genommen hat, um Ski zu fahren. Im Sommer bringen die Bauern ihr Vieh hier rauf. Man nennt das "gesömmert". Ansonsten - hmm - hat es zwei Restaurants. Eines davon ist geschlossen. Das andere, davor sind meine Campingnachbarn schon in aller Herrgottsfrühe gestanden. Vollkommen durchgefroren.
Es ist Mittwoch der vierte Oktober 2022. Auch ich bin vor den ersten Sonnenstrahlen aufgestanden - weil - ich wollte mit meiner Drohne den Sonnenaufgang filmen. Und ich muss sagen, es war mit minus 2 Grad (gefühlt minus 10 Grad) bitter kalt. Am liebsten hätte ich beiden jungen Leute in meinem schön warmen Bus gesetzt - aber ich denke, der Wirt macht gleich seine Wirtschaft auf. Wir grüßen uns; Ich geh weiter zur Kapelle. Bin erstaunt - trete ein - die Kapelle hat wider erwarten geöffnet. Und was mich noch mehr erstaunt, sie ist beheizt.
Der Altar trägt das Bild des heiligen Franz von Assisi beim Empfang der Wundmale. Muss sagen: Es ist schön hier. Ich setze mich in eine der Bänke. Unsichtbare Gestalten aus längst vergangenen Tagen sitzen vor - hinter - neben mir. Die Kirche erzählt mir ihre Geschichte - Geschichten. Ab Heute auch die Meine.
Mein Weg führt mich noch 50 Meter weiter, dann ist der Ort auch schon zu Ende. Eine kleine Seitenstraße weist den Weg zum See, an dessen Ufer ein Hubschrauberlandeplatz ist. Ergo: Genau der richtige Platz, um die Drohne steigen zu lassen. Und das genau im richtigen Moment. Die ersten Sonnenstrahlen blitzen über die Schneebedeckten Bergspitzen ins Dorf, und bringen das Wasser des Stausees zum glänzen und glitzern. Die Drohne übermittelt mir die schönsten Bilder, aus einer Sicht, welche für Menschen nicht erreichbar ist. Muss sagen, der Platz hier hat zwei Seiten. So unwirklich der Ort ist - ein Hauch von Charme strahlt aus ihm hervor.
Meine Camperkollegen scheinen Einlass gefunden zu haben. Ich geh zurück zum blauen Bus - starte den Diesel, und tuckere gemächlich durch den Ort. Dann, in wenigen Kurven, hinauf auf die Passhöhe. Dort, am ehemaligen Zollhaus, parke ich den Bus erneut. Das Gebäude stammt aus dem Jahre 1970. Die Funktion als Zollhaus gibt es nicht mehr. Es ist, wie viele Gebäude an der Passstraße, ein "lost Place". Schlagbäume gibt es hier auch keine mehr. Genau so wenig wie weiter unter, am ehemaligen Zollgebäude der Schweizer. Dort stelle ich - ganz wichtig - meinen blauen Bus in die ehemalige Durchfahrt der Kontrollstelle, und mache Bilder.
Irgendwann bin ich unten - bin ich wieder in Splügen. Fazit: es war - ist einer der schönsten Pässe, die ich je gefahren bin. Und weil es hier noch viel zu entdecken gibt, werde ich auf jeden Fall wieder kommen.
Ach so: hinter dem Wachlokal steht ein Gedenkstein, der 1922 zum Hundertsten Jubiläum aufgestellt wurde: Darauf steht über alle vier Seiten verteilt: "Hundert Jahre gedient" - "Hat die Straße dem Werk des Friedens" - "Möge ihr künftiges Geschick" - " Wert der Vergangenheit sein".
>>> Eigentlich wäre der Blog hier zu Ende. Wären da nicht die Pläne für einen Kanal, mit welchem Frachtschiffe über den Splügenpass fahren. Interessiert? Dann schaut euch den nächsten Blog an: Mit dem Schiff vom Mittelmeer an die Nordsee. Es bleibt also spannend.
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