Mit dem Schiff vom Mittelmeer, über den Splügenpass, an die Nordsee
Also im direkten Weg über die Alpen. Hirngespinst oder Realität?
Früh ging die Sonne unter, als ich im Ort Montespluga, 3 Kilometer vor der Passhöhe auf der italienischen Seite des Splügen, meinen Bus parkte. Es blieb noch viel Zeit, den Tag passieren zu lassen, und mich in die Umgebung hinein zu versetzen. Und der Zufall wollte es, dass ich im Internet eine Seite gefunden habe, welche genau hier, wo ich jetzt stehe, eine Wasserstraße geplant wurde!? Mein erster Gedanke: "das ist ein Fake". Dann jedoch verschwand beim lesen dieser Gedanke der Fälschung, und meine Neugierde wurde geweckt.
Allein die Logik sagt es schon: Der Transport auf dem Wasserweg ist die wirtschaftlichste Methode, um Massengüter über große Distanzen zu verschieben. Allerdings sind Gebirge für die Schifffahrt ein unüberwindliches Hindernis.
Nicht für Pietro Caminada. Er wollte das nicht hin nehmen. Er entwarf einen direkten Wasserweg für Lastkähne vom Mittelmeer an die Nordsee.
Hintergrund: Die "Kunststraße", wie die Straße über den Splügen auch genannt wird, gibt es erst seit 1823. Ab diesem Zeitpunkt war es möglich, mit Fuhrwerken den Pass zu überqueren. Davor erfüllten Säumer (waren Personen, die Lasten auf dem Rücken von Saumtieren über das Gebirge transportierten. Jahrhundertelang beförderten sie vor allem Salz und Wein über die Pässe der Alpen) auf schmalen Wegen (Saumpfaden) diese Arbeit. Man kann sich somit leicht vorstellen, welchen gewaltigen Aufschwung die Straße genommen hat, nachdem Pferdewagen über den Pass gezogen werden konnten. 1856 waren es, allein an diesem Pass wo ich gerade stehe, 27100 Tonnen Waren.
Für mich ist das, wo ich derzeit in einem Hochtal am Splügenpass weile, ein unvorstellbarer Gedanke, dass in dieser kargen und baumlosen Höhe, Schiffe an mir vorbei ziehen. Es ist - leicht beängstigend, und doch - faszinierend.
Die Flussschifffahrt, sie gab es schon im Mittelalter. Die Holzflößerei schon vorher. Der Warentransport Flussaufwärts wurde mit Pferden bewältigt. Und so war es Naheliegend, mit Schiffen auch die Alpen zu überqueren.
Kühn waren die Pläne allesamt; Der Kühnste von allen aber war zweifellos jener von Pietro Caminada, der vor über 100 Jahren den Splügen auf einem transalpinen Wasserweg überqueren wollte.
Wer war Pietro Caminada? Um es vorweg zu nehmen, ein Spinner war er nicht. Vielmehr ein Visionär, welchen ich gerne mal getroffen hätte. Ein Gespräch bei einem Bier - solche Leute braucht es mehr auf dieser Welt! Die halbe Nacht habe ich mich mit Pietro Caminada befasst. (Hinweis: Hier oben - in der Einsamkeit von Montespluga mit seinen 10 Einwohnern - gibt es perfektes Internet !) Allein über diesen Mann könnte ich jetzt ein Buch schreiben. Ich denke, hätte man ihn machen lassen, und, wäre der Aufschwung der Eisenbahn nicht so rapide vorangeschritten, der transalpine Kanal wäre Wirklichkeit geworden. Zumal Süddeutschland immenses Interesse gezeigt hat, eine direkte Verbindung zum neu erstellen Suezkanal zu bekommen.
Der Anfang des Kanals wäre bei Genua gewesen. Von dort wäre er entlang des "Polcevera" zum ligurischen "Gioviopass" angestiegen. Nachdem dieser mit einem Tunnel durchquert worden wäre, sollte er entlang der "Scrivia" zum "Po" hinab steigen. Über "Mailand" und "Lecco" sollte der Kanal den "Comer See" erreichen. Nach der Durchquerung der Schiffe durch den Comer See, beginnt dann ab "Chiavenna" der große Aufstieg zum Splügenpass. Nach dem Anstieg in den Tälern von den Flüssen "Mera" und "Lira" wäre der Alpenkamm, unter dem Splügenpass, mit einem 15 Kilometer langen Tunnel durchquert worden. Auf 1250 Meter Höhe, etwa beim Dörfchen "Isola" wäre das Südportal gewesen. Auf 1100 Meter hätte der Kanal die Rofflachschlucht erreicht. Weiter fahren dann die Schiffe durch die Via Mala.
Wer sie, wie ich, kennt, kann sich nicht vorstellen, wie das gehen soll?! In "Thunis", als auch in Chur, entstehen kleine Hafenbecken. Rheinabwärts geht es weiter in den Bodensee - dann Basel. Ab da war der Rhein bereits Schiffbar bis in die Nordsee.
Von Genua nach Basel beträgt die Länge des Kanals 591 Kilometer. Davon werden 230 Kilometer auf Seen und schiffbaren Flüssen gefahren. So misst der eigentliche Kanal 361 Kilometer.
Da die großen Wassermengen zum heben und senken der Schiffe nicht überall vorhanden sind, hat Pietro Caminada ein neues Kanalsystem erdacht.
Man stelle sich eine Wasserleitung vor, die über Hügel und Hänge von einem Reservoir in die Stadt führt. Ähnliche Röhren wollte Pietro Caminada als Kanalbett verwenden. Die Röhren führen in Serpentinen den Berg hinauf. Im Innern sind Schleusentore. Auch sind Schienen am Boden. Soll ein Schiff nun über den Berg gebracht werden, so fährt es in die unterste Schleuse ein, deren Tor sich hinter ihm schließt. Es wird dann mit der Schiene verbunden, so dass es auf ihnen empor rollen kann, Dazu wird Wasser in das Rohr - die Schleuse eingelassen, welches sich hinter dem Schiff sammelt, und dann beginnt, das Schiff langsam - vor sich herschiebend, nach oben hebt. Das Schiff schwebt förmlich auf dem einfließenden Wasser nach oben. Bis das Niveau - die Höhe der nächsten Schleuse erreicht wird. Die Grundlage des "Caminadiaischen System" beruht auf Stufenschleusen, die als Rohrschleusen fortgeführt werden, bzw. umgewandelt werden. Zwei Röhren parallel: Das ausfließende Wasser des talfahrendes Schiffs wäre eingeflossen in die Röhre des Bergwärts fahrenden Schiffes.
Aber nun kam die Eisenbahn. Und eine Strecke war von Chur - über den Splügen - nach Chiavenna geplant. Es gab, wie Heute auch noch - Streit. Und wirtschaftliche Interessen wurden, wie Heute auch, mit politischen Interessen verglichen. Und dann kam der erste Weltkrieg, und die Menschen in Italien hatten andere Sorgen.
Und jetzt? Mein Blick geht durch die Fensterscheibe meine T4 hinaus in das lange Tal südlich von Montespluga. Geht über den "Lago die Spluga" . Warum soll man die Pläne von Pietro Camanida nicht wieder aus dem Regal holen? Dieser geniale Mensch hätte Heute noch seine Daseinsberechtigung. Müssen wir in Europa nicht einmal umdenken? Sind unsere Verkehrsmittel noch Zeitgemäß? Es wäre für die Bahne eine Konkurrenz ohnegleichen, wenn man bedenkt, dass die Flussläufe zur gleichen Zeit die Triebkraft und die Schiene ersetzen würden.
Christian Caminada - der Bischof von Chur, hat es in seinem Nachruf auf den Punkt gebracht:
Pietro Caminada habe gewusst, dass die Ausführung seiner Pläne auf sich warten ließe. Für solche Pläne brauche es große Idealisten, schreibt Christian Caminadi weiter in seinem Nachruf:
Er war ein Feuerkopf mit langem weißem Bart und Haar bis auf die Schultern, ein brennender Vesuv, mit Schnee auf dem Gipfel.
Pietro Caminada wurde 1923 in Rom zu Grabe getragen - im kleinen Ort "Vrin" wo er her kam, haben die Glocken geläutet - haben alle getrauert, weil ein ganz Großer verstorben ist, auf den sie, bis Heute noch, stolz sind. Pietro Caminada wurde 60 Jahre alt.
Übrigens: Seine «Via d’Acqua transalpina» geriet in Vergessenheit. Aber eine «Via Pietro Caminada» gibt es. Es ist eine schmale Landstrasse in der Ebene zwischen Rom und dem Tyrrhenischen Meer. Sie führt einmal fast im Kreis herum und eigentlich nirgendwohin.
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